Meine Kindheit war schön. Ich hatte und habe mich liebende Eltern und einen wundervollen Bruder. Ich hatte immer Freunde um mich und in der Schule hatte ich nie Probleme (ok, außer bei Analysis in der 11. Klasse, da habe ich ordentlich abgekackt). Daraufhin habe ich mich Hals über Kopf dazu entschlossen, Wirtschaftswissenschaften zu studieren, weil ich so ein kreativer Kopf bin und meiner Kreativität endlich mal freien Lauf lassen wollte (Ironie).
Ich habe mich für dieses
Studium entschieden, um vernünftig zu sein. Ich wollte etwas solides in der
Tasche haben, etwas Handfestes, etwas, was mir in meiner späteren beruflichen
Laufbahn Sicherheit gibt. Irgendwann habe ich festgestellt, dass es so etwas
wie 100%ige Sicherheit nicht gibt. Ich habe jahrelang etwas getan, wovon ich
dachte, dass es das Richtige für mich ist, weil ich nicht mehr darauf gehört
habe, was ich denn eigentlich fühle und was ich mir eigentlich wünsche.
Vielleicht kennst du dieses
Gefühl, dass kleine, muntere, lockere, ausgelassene, kleine Kind zu vermissen,
welches du früher vielleicht einmal warst. An irgendeinem Punkt in unserem
Leben haben wir die Verbindung gekappt, weil uns vielleicht gesagt wurde, dass
wir so oder so sein sollten und wir uns in eine Rolle gequetscht haben, die
eigentlich gar nicht zu uns passt. Und so laufen wir eine Zeit lang blind durch
die Gegend und versuchen uns unsere Welt und unsere Gefühle rational zu
erklären. Aber Gefühle sind nicht rational und das Bauchgefühl macht irgendwann
so lange Krawall und kämpf sich mit den unterschiedlichsten Methoden an die
Oberfläche, bis ein Kartenhaus manchmal in sich zusammenfallen muss.
Jede Familie bringt seine ganz eigenen Probleme mit sich und ich wage es zu bezweifeln, dass es irgendeine Familie auf dieser Welt gibt, bei der einfach alles Rund läuft. So hatte auch meine Familie eine Zeit lang ihre Probleme und wenn man selbst in dem Moment in der Pubertät steckt und nicht weiß wo oben und unten ist, könnte es ziemlich schnell passieren, dass wir die Probleme unserer Eltern zu unseren eigenen machen. So habe ich das zumindest gehandhabt. Das war nicht unbedingt die gesündeste Strategie, aber als junges Mädchen weiß man es mitunter einfach auch nicht besser.
Mit 33 Jahren habe ich
gelernt, erwachsen zu werden. Vielleicht nicht zu 100% Erwachsen, aber ich habe
zumindest gelernt Verantwortung für mich und mein eigenes Leben zu übernehmen.
Der erste Schritt zu meiner eigenen Unabhängigkeit war, Alkohol aus meinem
Leben zu streichen und das war hart. Ich hatte es soweit an die Spitze
getrieben, dass, hätte ich ihn weiterhin in meinem Leben gelassen, ich wohl
nicht mehr lange am Leben geblieben wäre – zumindest nicht in einem qualitativ
brauchbaren Zustand.
Mein erstes Glas gefüllt mit
einem alkoholischen Getränk habe ich, so glaube ich zumindest, ganz klassisch
zu meiner Jugendweihe getrunken. Ob der Sekt mir damals geschmeckt hat, wage
ich ebenso zu bezweifeln. Aber irgendwie gehörte Alkohol mit dazu. In meiner
Familie wurde Alkohol gut und gerne getrunken und auch als Teenager gehörte er
zu Partys dazu. Meinen ersten Rausch erlebte ich mit fünfzehn oder sechzehn
Jahren. Ich weiß nicht, ob ich mir nach meinem ersten üblen Kater geschworen
habe nie wieder etwas zu trinken. Falls dem so war, habe ich mein Versprechen
keinesfalls eingehalten. Zu diesem Zeitpunkt habe ich mir tatsächlich keine
Gedanken darüber gemacht, ob der Konsum von Alkohol irgendwelche negativen
Aspekte mit sich bringen könnte. Ich trank gelegentlich und wenn dann nur am
Wochenende.
Dies änderte sich schnell zu
Studienzeiten. Ich habe jede passende Gelegenheit und jede Studentenparty
mitgenommen, die ich kriegen konnte. Auch in unserer damaligen Wohngemeinschaft
saßen wir oftmals zusammen bei ein bis mehreren Flaschen Wein und haben es „uns
gutgehen“ lassen. Mitunter setzte nach einer durchzechten Nacht ein schlechtes
Gewissen ein und die leise Frage, ob ich denn nicht eigentlich weniger Alkohol
trinken sollte. Ich sagte mir dann aber immer, dass ich nicht die Pferde scheu
machen sollte, denn andere trinken ja auch und genauso oft und viel wie ich.
Dabei habe ich wohl übersehen, dass, wenn man kein Problem mit Alkohol hat, man
nicht alleine trinkt und auch nicht öfter alleine trinkt und schon gar nicht
(fast) zu jedem Anlass und sich insgeheim einfach nur auf den nächsten Moment
freut, an dem man endlich wieder trinken kann. „Das sind meine russischen
Wurzeln, meine Trinkfestigkeit.“ witzelten wir. Dass das nichts mit Wurzeln,
sondern mit steigender Toleranz zu tun hat, übersah ich wohl. Vielleicht hatte
ich zu diesem Zeitpunkt schon einmal den Drang dazu verspürt zu googlen, ob ich
denn schon eine Alkoholikerin sei. Ich wollte es nicht schwarz auf weiß haben.
Außerdem gab es dieses Problem schon in meiner Familie. Zudem bestätigte mir
meine damalige Therapeutin, dass mir sowas nicht passieren könnte und ich
einfach den Schnaps weglassen soll. Mein Freifahrtschein in die Trunkenheit.
Ich war unglücklich und
stürzte mich von einer unglücklichen Beziehung in eine glückliche, hielt dies
nicht aus und stolperte daraufhin angetrunken von einem Beziehungschaos ins
nächste. So fühlte sich meine Freiheit an. An meinen Trinkgewohnheiten änderte
sich lediglich, dass es nun fast jeden Abend eine Flasche Wein war, die ich
trank. Damit ich das Alleintrinken vor mir selbst irgendwie noch rechtfertigen
konnte, traf ich mich einfach vermehrt mit Menschen, die auch tranken und am
Wochenende gab es keinen Grund für ein schlechtes Gewissen, denn da war das Trinken
schließlich legitim.
Als ich eine Zeit lang in
Paris lebte, konnte ich mir meinen Weinkonsum hervorragenden mit der
französischen Weinkultur erklären. Paris und Wein, das gehört sich so.
Photo credit: Clark Tibbs/Unsplash
Als ich nach Berlin gezogen
bin, waren die Ausreden perfekt nur die Aussetzer nahmen mehr und mehr zu und
irgendwann war es relativ aufwendig vor mir selbst zu verheimlichen, dass ich
ein Problem mit Alkohol habe. Ich stürzte von einem Job in den nächsten und von
einer chaotischen Beziehung in die nächste. Zu guter Letzt entdeckte ich das
perfekte Alibi für mich. Elektronische Tanzmusik und die Clubszene. Endlich
unter Menschen, die mich verstehen. Endlich unter Gleichgesinnten, vor denen
ich nichts zu verstecken brauche. Ich versteckte aber doch und das Abend für
Abend. Das Lügenkonstrukt stand fest auf beiden Beinen. Harte Drogen kamen mit
hinzu und so wurde das Trinken noch viel, viel einfacher. Meine Entschuldigung
für noch mehr Rausch, denn der Alk geht dann schneller runter und man merkt
nicht mehr so viel. Ist dann fast so, wie Wasser trinken. Bier war mein Wasser.
Was mein Körper zu diesem Zeitpunkt aushalten musste, wird mir rückblickend
erst klar. Alkohol, Drogen, Nikotin – Vergiftung. Aufgefallen bin ich nicht,
weil es viele andere Menschen gibt, die das genauso machen. Im Nachhinein frage
ich mich, wieviel andere Menschen sich insgeheim auch damals schon gefragt
haben, ob sie ein Problem haben könnten.
Anfang 2017 folgte ein
Beziehungsende, ein verlorener Job, ein gebrochenes Herz – gefühlt ein
gebrochenes Leben und als ich eines Morgens aufwachte, zitterten meine Hände.
Eigentlich war mir schon 10 Jahre zuvor klar, dass Alkohol sehr schnell zum Problem
geworden ist. Aber ich habe erst gehört, als ich fühlen musste. Nach
Angstzuständen und dem Gefühl, alles zu verlieren (vor allem mich selbst), wenn
ich so weiter mache wie bisher, habe ich mein Kartenhaus selbst gecrashed. Ich
habe mir nach 10 Jahren eingestanden, dass ich ein Problem mit Alkohol habe.
Zu diesem Zeitpunkt konnte
ich mir überhaupt nicht vorstellen, wie mein Leben ohne aussehen soll. Ich und
der Alkohol waren so sehr miteinander verschmolzen, dass ich dachte, dass ich
ohne ihn nicht leben kann und alles verlieren werde. Keine Freude, keine
sozialen Kontakte, keine ausgelassenen Abende mehr, nie wieder einen Club
betreten, nie wieder Spaß im Leben. Das ist wohl die größte Angst eines jeden,
der begreift, dass er Alkohol aus seinem Leben streichen muss, um wieder die
Möglichkeit zu haben zu leben.
Entgiftung. Rückfall. Langzeittherapie. Kleinstadt. Long story short: mein Leben hat eigentlich erst wieder begonnen, als ich aufgehört habe Alkohol und Drogen zu konsumieren. Hätte mir vor meinem Crash jemand gesagt, dass die andere Seite so schön ist, dann hätte ich vielleicht eher den Mut gehabt, sie zu betreten. Das Ding ist wohl, dass du wollen musst. Und um wieder bei dem kleinen Mädchen anzuknüpfen: über zehn Jahre lang hatte ich es verloren. Ich wusste nicht mehr wie es ist, mit Leichtigkeit zu leben. Ich wusste nicht mehr wie es ist, ohne Dämpfer im Hirn aufzuwachen. Ich hatte keine Ahnung mehr davon, wie es sich anfühlt, ausgelassen zu sein. All das habe ich wiederentdeckt, als ich mich dazu entschlossen habe, auf Alkohol und Drogen zu verzichten.
Photo credit: Pedro da Silva